Ein trauriges Bild eines Mannes ohne gültige Perspektive: Paul Auster thematisiert in „Baumgartner“ Liebe, Tod, Schmerz, Verlust und das Alter
von Sebastian Meißner
Seymour T. Baumgartner ist ein emeritierter Professor für Phänomenologie aus Princeton. Mit dem Schreiben philosophischer Bücher (vor allem beschäftigt er sich mit Kierkegaard) und anderer intellektueller Anstrengungen versucht er sich von dem Schmerz abzulenken, den der Tod seiner geliebten Frau Anna Blume vor zehn Jahren verursacht hat. Eines Nachts klingelt das Telefon und sie spricht zu ihm. Zwar nur eine Einbildung, aber ein Wendepunkt im Leben Baumgartners, der den Entschluss fasst, sein Leben noch einmal zu ändern und mutiger zu sein.
Ein amputiertes Leben
Im Folgenden wirft Baumgartner einen Blick auf verschiedene Etappen der Beziehungsgeschichte zu Anna, angefangen bei einem zufälligen Kennenlernen. Baumgartner reflektiert über die gemeinsame Zeit und auch Annas schriftliche Gedanken als Schriftstellerin fließen in die Erzählung ein. Erinnerungen überlagern sich. Zudem wird ihr Nachlass durchforstet. Paul Auster webt literarische Bezüge in seine Erzählung ein und erforscht, wie Erinnerungen tatsächlich entstehen – Erinnerungen, die nicht immer schlüssig und stringent sind. Baumgartner, der den Tod seiner Frau mit einer Amputation seines Körpers vergleicht, ist ein pflichtbewusster Mann alter Schule. Sein Leid kann weder in der Vergangenheit noch in Gegenwart oder Zukunft gelindert werden. Sein Versuch, erneut zu heiraten, scheitert daran, dass er in der neuen Partnerin letztlich doch nur die verlorene Gattin sieht. Er wird erneut verlassen.
Paul Auster mischt Biografisches mit Fiktion
„Baumgartner“ ist ein wilder Mix aus vagen Erinnerungen, Anekdoten, literarischen Texten der Verstorbenen sowie Querverweisen zu einigen von Austers Vorgängerromanen. Biografische Parallelen zu Paul Auster Leben sind offensichtlich. Er durchmischt sie jedoch mit Fiktionen. Es geht nicht um Austers persönliche Geschichte, sondern um übergeordnete Gedanken zu den Themen Verlust, Schmerz, Alter, Liebe, Würde und Tod. Dass Auster an Krebs erkrankt ist, verleiht diesem Buch eine zusätzliche Deutungsebene.
Man muss sich verabschieden
Die Handlung dieses Romans ist nicht unter Kontrolle. Gedankliche Abschweifungen durchbrechen den Plot immer wieder. Genau dadurch jedoch entsteht diese intensive Anteilnahme. Es ist, als würde man Baumgartner, dessen altersbedingter Verfall sich in zahlreichen kleinen Dingen zeigt, unfreiwillig und unbemerkt in seinem Alltag beobachten. Es ist ein trauriges Bild eines Mannes ohne gültige Perspektive. Und gleichzeitig verdient Baumgartner Respekt vor seiner Entscheidung, sich dem Leben, wie es jetzt ist, zu stellen. Am Ende muss man abschließen. Mit Erinnerungen ebenso wie mit allem anderen auch.
Paul Auster: „Baumgartner“, Rowohlt, übersetzt von Werner Schmitz, Hardcover, 203 Seiten, 978-3-498-00393-7, 22 Euro. (Beitragsbild: Buchcover)